meine Geschwister

Bei einem Telefonat im Frühjahr 2006 mit meinem Bruder überraschte mich eine Äußerung von ihm, und ich kam zu dem Schluss, dass ich ihn kaum kenne. Kein Wunder, sahen wir uns doch seit Jahren höchstens 2 Mal im Jahr, manchmal gar nicht. Und wenn, dann wurden meist nur mehr oder weniger belanglose Erlebnisse erzählt, nie über Gefühle gesprochen, oder was man liebt bzw. nicht mag, und ähnliches. Beim Nachdenken über unsere Kindheit musste ich feststelle, dass ich auch viel zu wenig über ihn weiß aus dieser Zeit, obwohl wir doch damals zusammen lebten, nachts gemeinsam mit unserer Schwester in ein Zimmer gepfercht. Ich war oft Aufsichtsperson und sollte ihm auch das Klavierspiel beibringen, aber er hatte keine Lust zu üben und kümmerte sich nicht darum, was er sollte. Auch perfekte Hausaufgaben waren nicht sein Ding, er schmierte sie einfach hin und ging Fußball spielen. Trotzdem war er sehr gut in der Schule. Er brauchte nicht lernen, er merkte sich den Stoff im Unterricht.  Als er gefragt wurde, ob er in die HTL oder ins TGM gehen möchte, erklärte er, dass er lieber eine Lehre machen wollte. Ich kann mich nicht erinnern, dass es irgendeine Art Ärger deswegen gab. Er wusste, was er wollte, und meine Eltern ließen ihn. Später schulte er auf die Betreuung von Computern um, hatte einen anspruchsvollen Beruf und arbeitete zeitweise viel, dazwischen genoss er das Leben mit Motorradreisen oder tobte sich bei Privatrennen mit dem Motorrad aus. 
Zu seinem Geburtstag war er praktisch nie im Land, und er wollte auch nicht, dass man ihm gratuliert. Auch bei so mancher Weihnachtsfeier fehlte er, wenn er Dienst machte um Kollegen mit Kindern Freizeit zu ermöglichen. Aber sonst hielt er guten Kontakt zu den Eltern aufrecht. Heiraten schien nicht in sein Leben zu passen, er hatte aber viele Freunde und war an seinem Arbeitsplatz beliebt, und gelegentlich lernte ich auch mal eine Freundin von ihm flüchtig kennen, und das war´s.
Ich wollte diesen "Mangel" beheben und bat ihn im August 2006 um ein Gespräch "über das Leben". Dies lehnte mein Bruder mit allerlei Einwänden ab, er schien geradezu Angst vor so einem Gespräch zu haben. Er bekundete offen, kein Interesse an meinem Leben, meinen Erfahrungen zu haben, ja, dass ihm missfalle, was er in letzter Zeit von mir erfahren habe, und stellte ein solches Gespräch als Zeit- und Energieverschwendung hin. An seiner Einstellung zum Leben würde es nichts ändern. Als ob dies der einzige Grund für meinen Wunsch nach einem Gespräch sein könnte! Ich änderte meine Bitte in ein Angebot. Wenn er wolle, könne er Fragen stellen oder nur von sich erzählen, wenn ihm mal danach sei. Doch ich hörte nichts mehr von ihm. Zwei Monate später war er tot. So weit ich erfuhr hatte er einen Abschiedsbrief geschrieben, sich mit einer Flasche Wodka angetrunken und vor einen Zug gestürzt, weil er keinen anderen Ausweg mehr sah. Angeblich wusste niemand, was ihn in den Tod getrieben hatte. Wirklich niemand?
Erst 2009 erzählte mir meine Mutter von einer versperrten Schublade an seinem Arbeitsplatz, mit Liebesbriefen darin, und dass es beim Begräbnis einen Kranz von einer unbekannten Person gegeben habe. Davor hatte sie mir schon mal erzählt, dass seine Lebensgefährtin (die er sich angeblich ganz sachlich nach bestimmten Kriterien ausgesucht hatte) in seinem Computer mails gefunden hätte, in denen er jemandem schrieb, seine Freundin hätte ihn "rausgeschmissen". Eine Frau mit - angeblich - der Fähigkeit dazu sagte mir auf meine Frage, was ihn zum Selbstmord veranlasst haben könnte, sie sehe nur, dass seine Frau ihn verlassen habe. Mein Bruder mit einer heimlichen Geliebten, Selbstmord aus Liebeskummer? Und das nach einer Erziehung, in der Liebe verboten war!
Nachdem mir bewusst wurde, welchen Stellenwert  für mich Leistung im Zusammenhang mit Krankheit hatte, frage ich mich auch, was es für ihn bedeutete, so leicht lernen zu können, sich nicht anstrengen zu brauchen. Mein Vater hatte zwar anscheinend ein Genie als Kind gewünscht, aber vielleicht nur, damit er dieses Kind nicht loben muss für erbrachte Leistung? Wie kam mein Bruder wohl damit zurecht, dass unsere Eltern sich recht wenig um ihn kümmerten? Half es ihm, zwei ältere Schwestern zu haben?

Bei meiner Schwester ist es mir klarer. Sie hat offensichtlich sehr unter dem Mangel an Liebe gelitten, vielleicht noch mehr als ich. Ich war Konkurrenz um die Aufmerksamkeit unserer Eltern, außerdem lehnten diese sie ab. Meine Mutter sagte mehrmals, sie wäre ein hässliches Kind gewesen. Auf Fotos zeigt sie in ihren ersten Lebensjahren einen Gesichtsausdruck, als wäre sie gerade fürchterlich erschreckt worden. Sie reagierte auf ihre Weise auf den Mangel an der lebensnotwendigen Aufmerksamkeit und gleichzeitig an Freiheit  (bei ihrem Geburtshoroskop steht der Mond im Wassermann - ein Hinweis auf großes Freiheitsbedürfnis) und entwickelte Verhaltensweisen, die unseren Eltern missfielen und zu ständiger Kritik, Ermahnungen, Verachtung bzw. Zorn führten. Gelegentlich verstiegen sich unsere Eltern zu der Überlegung, dass dies gar nicht ihr eigenes Kind sein könne, sie müsse nach der Geburt im Spital vertauscht worden sein. Dann aber wieder entdeckten sie Ähnlichkeiten zur Großmutter, der Mutter meiner Mutter, über die sich mein Vater oft verächtlich äußerte. 
Erst als ich entsprechende Literatur las und meine eigenen Gefühle der Kindheit entdeckte, konnte ich auch meine Schwester verstehen und erkennen, dass ihr Verhalten gar nicht so absurd und dumm war, wie es mir dargestellt wurde und wie ich es seinerzeit auch empfunden hatte - das Stehlen auf eine Art, dass sie gleich erwischt wurde, das Nicht-mal-anfeuchten der Zahnbürste, sodass unser Vater bald draufkam, dass sie ihre Zähne nicht putzte sondern sich nur eine Weile im Bad aufhielt, und schließlich das Ergattern von Dankbarkeit von fremden Menschen durch Hilfsdienste, während sie zu Haus unwillig war. Unsere Mutter war entsetzt darüber, dass andere Menschen aus der Siedlung ihr vorschwärmten, was für eine liebe Tochter sie habe, und dass sie sie darum beneiden würden - während diese zu Hause nur mit viel Nachdruck dazu gebracht werden konnte, etwas im Haushalt zu helfen. 
Im Gegensatz zu mir hätte meine Schwester beim Mittagessen gerne eine zweite Portion gehabt  (und bekam sie meist nicht, weil sie dick wurde), und schließlich plünderte sie nachts Speis und Kühlschrank. Ich verstehe, wieso sie einen Tick entwickelte, der unseren Vater so wütend machte, dass er verlangte das gefälligst zu kontrollieren. Sie zuckte dabei mit der Nase zur Seite, es sah  schrecklich aus und nervte die ganze Familie, und schließlich schaffte sie es wirklich, das abzustellen. Danach bekam sie Warzen an den Fingern. Dagegen war mein Vater machtlos, da konnte er nicht Kontrolle verlangen. Nur ihr verbieten, sich die Nägel zu lackieren, weil sie damit auf ihre hässlichen Finger aufmerksam machen würde. Und einigermaßen ist mir auch klar, wie es kam, dass sie mit Burschen bzw. Männern ihre Zeit verbrachte, zuerst nachmittags, nach der Schule, dann wurde es immer später, schließlich kam sie überhaupt nicht mehr nach Hause. "Wie kann man mitgehen, nur weil jemand sagt "komm mit"?!" hörte ich mal unsere Mutter ausrufen. Ja, warum eigentlich nicht? Unserem Vater war es offenbar nicht gelungen, meiner Schwester (so wie mir) Angst vor Sexualität zu machen, und so war es für sie wohl angenehmer, mit Menschen die Zeit zu verbringen, die sie schätzten, warum auch immer. 
Wie das damals für sie war, kann ich auch sie leider nicht mehr fragen. Sie starb 1997 bei einem Verkehrsunfall, unterwegs mit 4 Freunden in ihrem VW-Bus. Sie war früh von zu Hause ausgezogen, hatte sich in einer kleinen billigen (weil feuchten und somit ungesunden) Wohnung eingerichtet, verdiente mit verschiedenen Jobs ihr Geld und sammelte Freunde um sich. Einige davon waren behindert oder sonst wie benachteiligt und sehr dankbar, meine Schwester als Freund und Hilfe zu haben. Mit solchen Menschen war sie unterwegs zur tschechischen Grenze, damit dort alle billig einkaufen könnten, als es zum Frontalzusammenstoß mit einem PKW kam. Dieser war vor den Wagen meiner Schwester geschleudert, weil er von hinten gerammt worden war. Meine Schwester, die hinter ihr sitzende Frau und die Frau in dem PKW starben, weil ein Möchtegern-Raser den PKW vor sich als Hindernis ansah, das auf der Überholspur (die Straße war an dieser Stelle dreispurig) vor ihm nichts zu suchen hatte. Er fuhr danach einfach weiter und konnte nur ausgeforscht werden, weil die neben ihm sitzende Freundin das Erlebnis nicht für sich behalten konnte und den Vorfall Freunden erzählte, von denen einer eine Anzeige machte.
Etwa 2 Monate vor diesem Unfall hatte mich meine Schwester besucht und mir von ihren gesundheitlichen Problemen erzählt, die sie allerdings nicht sonderlich ernst nahm. Ich hatte mich etwas darüber gewundert, dass sie den Kontakt mit mir suchte, denn wir hatten uns nie gut miteinander verstanden. In der Kindheit sowieso nicht, und auch später sahen wir einander selten, und ich war dabei immer noch von großem Unverständnis geprägt. Bei diesem Besuch gewann ich den Eindruck, dass meine Schwester krank war und sozusagen bereits vom "Kapital" lebte und nicht mehr von den energetischen "Zinsen", auch wenn sie noch genügend Kraft hatte um dies zu ignorieren und ihren Freund im Rollstuhl, den sie mitgebracht hatte, locker in ihren VW-Bus bugsierte. Sie hatte eine fahle Hautfarbe und sah ziemlich schlecht aus. Nach dem ersten Schock, als ich von dem Unfall erfahren hatte, hatte ich daher den Eindruck, dass es genau richtig für meine Schwester gewesen war, jetzt so plötzlich zu sterben. So würde sie nicht durch eigene Krankheit daran gehindert werden, von anderen keine Dankbarkeit mehr für ihre Hilfe bekommen zu können, vielleicht sogar selbst hilfsbedürftig werden. Denn obwohl ich noch weit davon entfernt war alles zu durchschauen, so weit war es mir klar, dass sie diese Dankbarkeit brauchte. Und es waren nicht nur diese theoretischen Überlegungen, sondern ein tiefes Gefühl der Richtigkeit, das mich überkommen hatte, und das ich nicht erklären konnte. 
Nach ihrem Tod verhielten sich die Familienmitglieder unterschiedlich. Die Großmutter und deren Halbschwester, die bisher kein gutes Haar an meiner Schwester gelassen hatten, bejammerten heftigst das Ende dieses "blühenden Lebens", und Großmutter steigerte sich in "warum muss augerechnet uns das passieren" hinein. Für unsere Eltern blieb meine Schwester das schwarze Schaf. Sie kümmerten sich um die Verlassenschaft und räumten ihre Wohnung aus, wobei sie sich auf gewohnte Art über die diversen "Unmöglichkeiten" meiner Schweser "wunderten". Über die vielen Schachteln, die sie gehortet hatte (haben wir nicht in unserer Kindheit gelernt, dass man nichts wegwirft, was man noch brauchen kann, inklusive Geschenkpapier?), die "abgelaufenen" und teilweise verdorbenen Nahrungsmitteln im Kühlschrank bis hin zur Bestellung diverser Dinge auf Raten, die sie doch sicher gar nicht gebraucht hätte ...  Peinlicherweise mussten wir beim Begräbnis die anwesenden Freunde bitten, dem Redner Informationen über meine Schwester zu geben, denn niemand aus der Familie wusste etwas Gutes über meine Schwester zu sagen, das für die Trauerrede geeignet gewesen wäre.

Heute muss ich aufpassen, dass ich meine Geschwister meiner Mutter gegenüber nicht erwähne. 
Bei meiner Schwester beginnt sie sofort sich zu beklagen, was für ein unmögliches Kind das gewesen sei, dass sie gelogen hätte, die Unterschriften im Mitteilungsheft gefälscht, ihre Hausaufgaben nicht gemacht, u.s.w., bis hin zu vermuteter Geheimprostitution in ihrer Jugendzeit. Sie hätte in der Nacht nicht schlafen können und habe Beruhigungsmittel nehmen müssen, weil sie sich solche Sorgen gemacht habe, klagt sie dann - die verursachende Rolle ihres Mannes oder gar ihre eigene Beteiligung daran will sie natürlich nicht sehen. 
Bei meinem Bruder kommt, dass sie ihm nie verzeihen würde, dass er sich umgebracht hätte ohne auch nur eine Andeutung zu machen, dass ihn etwas belaste. Hier gilt gleiches - dass sie und ihr Mann niemals geeignete Zuhörer dafür waren, dass es undenkbar war, dass eins der Kinder psychische Probleme mit ihnen besprochen hätte (ich habe es ansatzweise versucht, und immer nur erlebt, dass sie eine Minute lang schwiegen und dann über was anderes sprachen), will sie nicht hören. Dass seine Kindheit bei ihnen eine wichtige Grundlage dafür gewesen sein könnte, schon gar nicht. 

 

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