Der Abbruch des Kontakts zur Familie und drei Todesfälle

Erinnerungen an das letzte „Familientreffen“ zu Ostern im Jahre 2003:     „Nein“
Mein Bruder war grad mal wieder irgendwo auf Urlaub, wie das zu Ostern oft der Fall war. Niemand machte ihm deswegen jemals einen Vorwurf. Schließlich arbeitete er viel, und der Urlaub wurde ihm gegönnt, und er kam auch sonst oft auf einen kleinen Besuch vorbei. 
Onkel F., der Bruder meiner Mutter, saß schweigsam in seinem Sessel, vielleicht noch schweigsamer als sonst. Seine bevorstehende Pensionierung war für ihn gewiss kein Grund zur Freude, wurde ihm dadurch doch ein wichtiger Lebensinhalt entzogen, denn er arbeitete gerne und wurde von seinen Kollegen geschätzt. Meine Eltern erwarteten außerdem von ihm, dass er sich dann mehr um seine Mutter kümmern und sie damit entlasten würde. Diese hatte aber schon bis dahin sein Leben über Gebühr bestimmt, jeden Samstag hatte er bei ihr zu erscheinen, damit sie ihn bekocht und sein Gewand wäscht und bügelt (ob er das wollte, wurde er gar nicht gefragt, und in der letzten Zeit fiel das wohl weg, weil sie es nicht mehr konnte), und den Nachmittag mit ihr zu verbringen. In seinem Urlaub hatte er sie zu Verwandten zu fahren, schließlich hatte er ja ohnehin nichts anderes vor. Niemals hörte ich ein freundliches Wort von ihr zu ihm, immer kommandierte sie ihn nur rum und hatte irgendwas auszusetzen. Die Aussicht, ihr noch mehr zur Verfügung stehen zu müssen, kann nach meinem Verständnis nur höchst unerfreulich gewesen sein. Dazu kam noch der Verdacht, dass er Krebs haben könnte. Vor kurzem musste ihm Flüssigkeit aus dem Brustraum gepumpt werden, die nach ärztlicher Ansicht die Folge einer übergangenen Lungenentzündung war. (Er hatte wenige Jahre zuvor seine Mutter trotz dieser schweren Erkrankung zu einem Begräbnis gefahren.) In dieser Flüssigkeit waren Krebszellen entdeckt worden.
Die Großmutter (die Mutter meiner Mutter und des Onkels) war schon fast 90 Jahre alt und klagte über ihre dicken Füße, die tatsächlich in kein Schuhwerk mehr passten. Sie schlief dann im Sitzen ein, schnarchte grauenerregend, wachte auf, rülpste, kommandierte meine Mutter in die Küche um was zu holen, mischte sich ins Gespräch ein, ohne zu wissen, worüber gerade gesprochen wurde, denn sie hatte ja geschlafen und war außerdem schwerhörig. Mit dem Hörgerät kam sie nicht klar, das lag immer nur herum.
Mein Mann verkroch sich in die herumliegende Zeitung, seine bewährte Taktik um sich dem Gespräch weitgehend zu entziehen.
Ich hatte nichts, was ich erzählen konnte, und so stürzten sich meine Eltern auf ihr Lieblingsthema - die Dummheit der anderen Menschen. Kürzlich war bekannt geworden, dass innerhalb einiger Wochen mehrere Saharareisende entführt worden waren, und so ging es los mit "Wie kann man nur in die Sahara fahren, wenn man doch schon weiß, dass dort Leute verschwinden?!" (Meine Eltern wussten sehr wohl, dass anfang nur bekannt war, dass Leute vermisst waren, und nicht, dass sie entführt worden waren.) Ich würgte das Thema mit dem Hinweis ab, dass auch in Island gelegentlich Menschen verschwinden und wir trotzdem dort gewesen waren. Schon hatten sie das nächste Thema parat. Die Tochter von Nachbarn war überraschend gestorben, und in ihrem Nachlass waren eine Menge ungelesene Zeitschriften entdeckt worden. "Wie kann man nur ..." Ich sagte nichts. Auch in einem Schrank von mir stapelten sich mehr oder weniger ungelesene Zeitschriften, und dazu noch eine Menge anderer Schriftstücke, zu deren Entsorgung ich mich bislang nicht entschließen hatte können. Allmählich packte mich die übliche Müdigkeit, ich begann zu gähnen - und meinen Eltern ging auch der Stoff aus. Bevor sich endgültig lähmende Stille breit machte, sagte meine Mutter "Der Vati hört sich jetzt alle alten Opern an und katalogisiert sie". Das Thema Opern ist mir ein Graus! Mein Vater hat reihenweise Tonbänder damit angefüllt, und sein Lieblingsthema war, wer gut singt und wer nicht. So konterte ich mit einer Aussage, die ich sonst meinen Eltern gegenüber nicht gemacht hätte. Ich sagte, ich würde meine Träume aufschreiben. Es folgte betretenes Schweigen, und wegen meiner Müdigkeit durfte ich mich auch bald verabschieden.

Es wurde immer klarer, dass mir solche Besuche Energie entzogen und ich sie besser einstellen sollte. Auch merkte ich eine zunehmende Aversion gegen die Stimme bzw. Ausdrucksweise meines Vaters. (Auch bei anderen: Als mir mein Hausarzt mal in genau diesem Tonfall sagte, man könne Depressionen mit Antidepressiva heilen, schrie ich ihn an, ob er denn überhaupt wisse, was Depressionen seien. An sich scheint mir diese Frage berechtigt, doch hätte ich ohne die Aversion bestimmt nicht schreien müssen.) Deswegen wollte ich auch meine Eltern nicht mehr anrufen, da ich nie wissen konnte, wer abheben würde. Aber noch einmal wollte ich mit meiner Mutter sprechen, da mich die Frage beschäftigte, wieso der Gedanke an eine Schwangerschaft in mir die "Gewissheit" hervorrief, dass ich eine solche nicht überleben würde, und das mit Sicherheit seit meiner Pubertät, vielleicht sogar schon länger. Ich wollte von ihr wissen, ob es Komplikationen gegeben hätte. So machte ich mit ihr aus sie zu besuchen, wenn mein Vater gerade beim Arzt war. 
Meine Mutter wusste aber über die Schwangerschaften nicht viel zu sagen. Nein, es hätte keine Probleme gegeben, es wäre nicht mal zu Übelkeit gekommen. Nur Schwangerschaftszucker, aber der vergehe ja danach wieder. (Nach der Lektüre von Janov kann ich mir zusammenreimen, woher meine Unterzuckerungssymptome bei normalem Blutzuckerspiegel kommen.) Angst? Nein, wovor denn, es lief ja alles komplikationslos! Und zum Abschluss sagte sie, dass sie es nicht bereue. Was ist denn das für eine komische Aussage?!
Dann wollte sie aber doch wissen, wieso mich das interessiere. Als ich ihr mein Angstgefühl erklärte, meinte sie sofort, daran wären wahrscheinlich die Schwangerschaften meiner Freundin schuld. Damals war ich aber schon um die 30,  und die Schwangerschaften meiner Freundin boten auch überhaupt keinen Anlass zu Angstgefühlen. So sagte ich meiner Mutter, dass das sehr unlogisch sei, und ich eher Erziehungsbotschaften vermute. Wieso, was denn für Botschaften? Ich kramte die harmloseste Aussage meines Vaters hervor, über die Frau, die sich vor ihrem Mann so fürchtete, dass sie alle 14 Tage die Regel bekam. (Eine schwangerschaftsspezifische Botschaft ist mir nicht in Erinnerung.) Sooooo was hat er mir erzählt???? Meine Mutter wurde zur großen Verwunderung. Ich auch. Zwar erinnere ich mich, dass die gemeinsame Betrachtung der Pornohefte unter Ausschluss meiner Mutter stattgefunden hatten, und er hatte ihr auch sicher nichts gesagt, als er zu mir ins Bett gekommen war, aber bei seinem Gelaber über die Besonderheiten der Sexualität war sie nach meiner Erinnerung anwesend. Ich beschloss, das Thema zu lassen und verabschiedete mich bald, nachdem auch mein Vater nach Hause gekommen war. Zuvor erklärte ich ihnen, dass ich für eine Weile nicht mehr anrufen und auch nicht mehr auf Besuch kommen würde, um der Psychotherapie zum Erfolg zu verhelfen. Sie sagten nichts dazu, so wie sie auch bisher geschwiegen und das Thema gewechselt hatten, wenn ich diese Therapie erwähnte.

Eine ziemliche Weile fiel es mir schwer, nicht mehr bei meinen Eltern anzurufen, war es doch zur Gewohnheit geworden, es so alle 2 bis 3 Tage zu tun. Besonders zu Weihnachten hatte ich auch ein schlechtes Gewissen dabei, mich nicht zu melden. Aber ich hatte meinen Eltern nicht verboten mich anzurufen, hatte sogar betont, dass sie das tun könnten, wenn es etwas gäbe, worüber sie mit mir sprechen wollten. Zu meinem Geburtstag schickte ich ihnen außerdem das Buch von Jean Liedloff mit einer kurzen "Widmung", in der ich schrieb, dass mir das Buch sehr geholfen hätte die Zusammenhänge zu verstehen, und dass ich ihnen dies auch wünsche. Ich hatte dies ausführlich mit meinem Therapeuten durchgearbeitet, und ich wollte gerne, dass meine Eltern verstünden, was mich beschäftigt. Heute weiß ich: ein unmöglicher Wunsch! Ich weiß allerdings nicht, ob sie das Buch überhaupt erhalten haben, da sie nicht reagierten, auch später nie was darüber sagten, und ich hatte mich nicht getraut, sie danach zu fragen.

Was ich erst im Dezember 2008 erfahren habe:
Ich war zur "Unperson" geworden, nicht wert jemals etwas zu erben. Mein Vater "verkaufte"  meinem Bruder die Wohnung (alles ganz offiziell, die Steuern wurde bezahlt, aber wohl kaum der auf dem Kaufvertrag stehende Preis), und der setzte seine Freundin als Erbin ein. Ich brauchte das wohl nicht zu wissen, man kann aber auch ganz einfach sagen, dass alle zusammen zu feige waren es mir mitzuteilen.  

Im Februar 2004 rief mich mein Bruder an und berichtete, dass Onkel F. gestorben war. Er hatte die letzten Wochen im Krankenhaus verbracht und war künstlich ernährt worden, da er nicht mehr essen konnte. Sein Körper war so voll Metastasen gewesen, dass keine Behandlung dagegen in Erwägung gezogen worden war. Ich war entsetzt und wütend. Niemand hatte es für notwendig gehalten mich zu verständigen und mir dadurch einen letzten Besuch bei ihm zu ermöglichen! (Er selbst allerdings auch nicht.) Ich wurde mit der Begründung abgespeist, dass sie alle nicht geglaubt hatten, dass es so schnell zu Ende gehen würde mit ihm. Seine Mutter hatte mich noch kurz zuvor an ihrem Geburtstag angerufen und sich für meine Geburtstagskarte bedankt, dabei über alle möglichen Beschwerden geklagt und mit keinem Wort erwähnt, dass ihr Sohn im Sterben lag. 
Auf dem Begräbnis empfand ich mich als fehl am Platz, und die Trauerrede als Verdrehung der Tatsachen. Mein Onkel wurde für seine Liebe und Treue zur Mutter als braver Sohn gelobt, und sein früher Tod wurde dahingehend bedauert, dass er seinen wohlverdienten Ruhestand nun nicht genießen konnte. Genießen - da kommt mir doch die Galle hoch! Ich bin mir sicher, dass er unbewusst den Tod vorgezogen hat. Beim anschließenden Leichenschmaus hörte ich meinen Vater Geschichten aufwärmen, in denen Onkel F. nicht gut wegkam, und meine Mutter genoss offenbar die Gesellschaft der aus einem anderen Bundesland angereisten Verwandtschaft.

Im Sommer erfuhr ich von meinem Bruder, dass die Großmutter ins Altersheim eingeliefert werden musste. Sie war nach dem Tod ihres Sohnes rapide verfallen. Meine Eltern hatten ihrem Wunsch, niemals ins Altersheim zu müssen, entsprochen so lange sie konnten. Doch nun ging es nicht mehr anders, meine Großmutter war so schwach, dass sie sich nicht aus eigener Kraft im Bett umdrehen konnte, und sie wusste auch nicht, wer und wo sie war. Mit den Pflegerinnen sprach sie serbisch (und alle hatten vorher geglaubt, sie hätte diese Sprache längst vergessen), und sie glaubte in einem Gefangenenlager im Krieg zu sein. Mein Bruder meinte, ein Besuch von mir würde ihr vielleicht gut tun, und so ging ich hin. Ich fand eine ausgemergelte Frau vor, die mich zwar erkannte, meinen Mann allerdings für einen (möglicherweise schon verstorbenen?) Verwandten hielt, ich hatte keine Ahnung, wen sie meinte. Ich stellte fest, dass ich keine guten Gefühle zu ihr hatte, am liebsten gleich wieder gegangen wäre. Sie anzufassen und vielleicht gar Jin Shin Jyutsu anzuwenden war für mich unmöglich. Trotzdem habe ich sie später noch mal besucht. Da ging es ihr schon viel besser, sie war einigermaßen klar im Kopf, und mein Mann schob sie in einem Rollstuhl ins Freie. Ein gutes Gespräch war aber nicht möglich, sie beklagte sich nur über alles mögliche, auch darüber, dass meine Eltern sie nur (!) jeden 2. Tag besuchten und nichts zu erzählen wüssten. Wirklich aus dem Gleichgewicht gebracht hat mich aber die Pflegerin, die sich ganz begeistert darüber äußerte, wie gut sich meine Oma erholt hatte, und anscheinend von mir erwartete, dass ich mich darüber freue. Ich fühlte mich nicht fähig, noch mal zu Besuch zu kommen.

Im Juli 2005 erhielt ich ein mail von meinem Bruder mit dem Inhalt, dass die Großmutter gestorben sei. Endlich, dachte ich mir. Das Begräbnis war noch schlimmer als das von Onkel F. Auf der Schleife des Kranzes von meinen Eltern stand "Wir danken für deine Liebe", und die Trauerrede war sozusagen in Rosarot getunkt. Vergessen war anscheinend die Verachtung meines Vaters für diese Frau und die Tatsache, dass meine Mutter oft in Tränen aufgelöst war, wenn sie von ihr kam. Ich hatte für meine Schleife auf dem Kranz etwas ausgesucht, in dem Liebe, Trauer und ähnliches nicht vorkam, doch die Gärtnerei hatte es vermurkst und die Schleife meiner Großtante zweimal gedruckt, dafür meine nicht. In aller Eile wurde noch schnell der Namen geändert, doch dann stand "in Liebe" auf meiner Schleife, und ich kochte innerlich. Wieder gab es einen Leichenschmaus mit den angereisten Verwandten. Mein Vater war diesmal schweigsamer, knochiger, mich mit seiner stärker als früher hervortretenden Nase und seinem altersbedingten Buckel an einen Geier erinnernd. Meine Mutter war dagegen geradezu aufgeblüht und plapperte selig, wie ein kleines Mädchen. Ganz offenbar war sie erleichtert, was sich aber nur in der Aussage niederschlug, dass es wunderbar sei, dass ihre Mutter ohne großes Leiden gestorben sei. Ich gewann den Eindruck, dass meine Eltern sich von mir fernhielten, denn flugs waren sie sowohl beim Begräbnis als auch beim Essen immer in der größtmöglichen Entfernung von mir, kaum, dass ich mich wo niedergelassen hatte.

In diesem Jahr bedankte ich mich für die Glückwunschkarte zu meinem Geburtstag (seltsam, dass ich die weiterhin bekam, obwohl sie nichts mehr von mir hören wollten) und schrieb meinen Eltern, wie es mir ging. Sie reagierten nicht darauf. Erst 10 Monate später wurde mir klar, dass ich noch immer auf irgendeine Art Anteilnahme von ihnen wartete, zu der sie nicht fähig waren. Die Art Anteilnahme, die ich von ihnen kannte, war Pflichtgefühl und "sich Sorgen machen", und das wollte ich nach meiner Erkenntnis nicht mehr.
Der Kontakt mit meinem Bruder hatte sich von seiner Seite aus in diesen Jahren auf die erwähnten  Familieninformationen beschränkt, und gesehen habe ich ihn nur auf den beiden Begräbnissen. Obwohl ich ihm öfters gesagt hatte, dass er jederzeit bei mir willkommen wäre, ließ er sich nie blicken. Im August 2006 rief ich ihn an und fragte, ob wir uns mal zu einem Gespräch treffen könnten. Dies lehnte er ab. Er hätte einiges von mir gehört, das ihm nicht gefalle, sagte er unter anderem. Leider versäumte ich es da nachzuhaken. Was konnte er denn schon über mich gehört haben und von wem? Als Informationsquelle kamen nur meine Eltern in Frage, und was wussten die schon so Böses über mich? Oder hatte mein Vater wieder mal was erfunden, so wie damals, als die erste Lebensgefährtin meines Bruders sich während seiner Wehrdienstzeit in einen anderen Mann verliebt hatte? Mir hatte er damals in einer Weise, als wäre er dabei gewesen, erzählt, sie hätte sich schleunigst in diversen Lokalen nach Ersatz für den nun abwesenden Mann umgesehen und ins Bett geholt. 

Am 8. November 2006 erfuhr ich von eben jener Freundin vom Selbstmord meines Bruders. Zufällig hatte ich sie ahnungslos an dem Tag aufgesucht. Am gleichen Tag erhielt ich den Partezettel von meinen Eltern, worin nur vom plötzlichen, unerwarteten Tod die Rede war, und sie hatten auch keinerlei persönliche Worte hinzugefügt. Das Begräbnis war schon zwei Tage später, ich hatte kaum Zeit mich von dem Schock zu erholen. Immerhin brachte ich es fertig, einen Kranz zu organisieren.
Diesmal herrschte Trauerstimmung beim Begräbnis. Meinem Vater war zwar kein Gefühl anzumerken, aber meine Mutter hatte offenbar Mühe ihre Tränen zurückzuhalten. Ich war wie betäubt, aber von ein paar Aussetzern abgesehen ziemlich klar im Kopf. Die Trauerrede war recht gut, da nicht nur meine Eltern Information beigesteuert hatten. Von ihnen war vor allem "gut in der Schule" , "braver Sohn" etc. gekommen, klar, was sonst. Am Ende des Begräbnisses hörte ich meine Mutter zu jemandem sagen, sie verstehe das nicht, mein Bruder wäre doch gar nicht der Typ dafür gewesen.
Diesmal war ich es, die Abstand wollte. Ich lehnte es auch ab, nachher mit "zum Chinesen" zu gehen und sagte meinen Eltern, wenn sie wollten, könnten wir einander ein andermal treffen. Ich war nicht gewillt, an der Aufrechterhaltung einer Fassade mitzuwirken, noch dazu, wo meine Eltern mich nicht ausreichend und nicht früher informiert hatten. Mein Bruder hatte sich nämlich bereits am 21. Oktober vor einen Zug geworfen und war sofort tot gewesen.
Wenige Tage später erhielt ich eine Karte von ihnen, mit dem Aufdruck "Wir danken für die erwiesene Anteilnahme", und mit der Hand war dazugeschrieben: "und die Blumenspende - deine Eltern". Jetzt reichte es mir! Ich wurde von ihnen behandelt als sei ich eine Fremde, die man zuerst gerade mal von Tod und Begräbnis verständigt, so knapp als wäre es völlig unwichtig, ob ich kommen kann, und dann wird der Kranz für meinen Bruder als Blumenspende betitelt! Ich schrieb einen Brief an meine Eltern, in dem ich meine Gefühle den Tod meines Bruders betreffend und das Befremden über ihr Verhalten ausdrückte. Damit wollte ich ihnen auch die Möglichkeit geben Einspruch zu erheben, sollten sie mir vielleicht doch eine Information geschickt haben, die nicht angekommen war - so was soll ja schon mal vorkommen. Doch es erfolgte keine Reaktion.

Zum Jahreswechsel entschloss ich mich zu einem weiteren Brief an meine Eltern, in dem ich ihnen - soweit möglich - ein angenehmes Jahr 2007 wünschte. Um dem Rätselraten ein Ende zu machen, ob sie meinen Vorschlag betreffend "ein andermal" nicht wahrgenommen haben oder absichtlich nicht darauf eingingen, erinnerte ich in diesem Schreiben daran. Diesmal erhielt ich eine Antwort. Meine Eltern schrieben, dass sie sich nicht an eine Einladung erinnern könnten, und den für mich entscheidenden Satz: "Wenn du das Gespräch mit uns suchst, so sind wir dazu bereit." Vor meinem geistigen Auge entstand die Situation, wie ich meinen Eltern meinen Standpunkt erklären möchte und dabei gegen eine Wand des Unverständnisses und Desinteresses rede. So wie ich viele Jahre lang nicht wahrnehmen konnte, dass es sie gar nicht interessierte, was ich zu erzählen hatte, und sie nur "höflich" zuhörten bzw. mein Vater stets auf der Suche nach einem Punkt war, wo er was besser zu wissen meinte. Eine solche Situation wollte ich nicht wieder heraufbeschwören, und nach einigen Tagen des Nachdenkens schrieb ich ihnen folgende Antwort:

Meine Eltern!
Ihr könnt Euch an keine Einladung erinnern, weil ich keine ausgesprochen habe. Als ich es ablehnte, nach dem Begräbnis mit zum Chinesen zu gehen, sagte ich: „Wenn Ihr wollt, können wir uns ein andermal treffen“. Damit meinte ich allerdings auch in einem Restaurant. 
Meine Formulierung „wenn Ihr wollt“ meinte ich wortwörtlich. Ich bin nur an einem Treffen interessiert, wenn auch von Euch Interesse daran vorhanden ist. Ich denke, dass ein gemeinsames Essen eine gute Möglichkeit für ein orientierendes Gespräch ist, ohne das drängende Gefühl Gesprächpausen irgendwie füllen zu müssen. Denn es gibt von meiner Seite her nicht viel zu erzählen. Ich lerne mein Leben achtsam zu leben, für mich selbst also, ohne daraus Gesprächsstoff zu machen.
Euer Satz, dass Ihr dazu bereit seid, wenn ich ein Gespräch suche, klingt für mich aber nicht nach Wollen und lässt mich auch plötzlich als Bittsteller dastehen, was nicht den Gegebenheiten entspricht. Ich habe ausgiebig darüber nachgedacht, wann ich selbst so einen Satz schreiben würde. Dann nämlich, wenn ich etwas zwar nicht will, mich aber verpflichtet dazu fühle bzw. mich nicht traue abzulehnen und es widerstrebend tue. Sowas kann ich aber ganz und gar nicht brauchen!
Ich mache Euch keinen Vorwurf daraus, wenn Ihr kein Interesse habt. Interesse kann man nicht erzwingen, es ist da oder nicht.
Oder irre ich mich vielleicht? Bitte teilt mir mit, wenn ich Euer Schreiben falsch interpretiere und Ihr doch den Wunsch habt, dass wir gemeinsam essen gehen.

Darauf erfolgte keine Antwort mehr.

Im August 2008 rief meine Mutter um Hilfe. Mein Vater war da, nachdem er seinen geistigen Verfall lange Zeit vertuschen konnte, schon ziemlich dement, und er weinte sehr viel - es schien, als sei das, was sein ganzes Leben lang die Tränen zurückgehalten hat, nun nicht mehr existent. Außerdem hatte er Schwierigkeiten mit dem Gehen, brauchte Hilfe bei der Körperpflege und war zumindest teilweise inkontintent. Meine Mutter brauchte jemanden, der ihr zuhört, dem sie ihr Leid klagen kann, von Interesse an mir, meinen Erkenntnissen und meinem Leben konnte natürlich keine Rede sein. Nicht mal eine Entschuldigung oder Erklärung zu der Nicht-Information nach dem Tod meines Bruders bekam ich zu hören. 
Ich wollte meiner Mutter ein bisschen im Haushalt helfen - sie ging lieber alleine einkaufen, ich sollte ihr erst beim Hinauftragen helfen und derweil meinem Vater Gesellschaft leisten. Kaum war sie weg, sprang er auf und nahm ein Vogelbuch aus dem Regal, legte es vor mich und blätterte darin, gab dazu Vogelnamen (meist die falschen) von sich, rückte näher, begann "es nutzt alles nichts" zu jammern, schließlich klammerte er sich an mich und suchte weinend mit seinem Kopf einen Platz an meiner Brust - ich reagierte tröstend und beruhigend, erst später - zu Hause - gerieten meine Nerven durcheinander. Tagelang war ich aus meinem seelischen Gleichgewicht, schwelte Wut und kochte hoch, wenn ich an diese Szene dachte. Ich kann die Gefühle keiner speziellen Begebenheit in der Vergangenheit zuordnen, aber es muss damit zu tun haben, und keine Therapie konnte diese Körpererinnerung löschen. Ich habe nur gelernt darauf zu hören, was mir gut tut und welche Situationen ich besser meide. Und das ist ganz eindeutig eine solche .. ..

Zunächst hatte ich die Diagnose "Morbus Alzheimer" einfach akzeptiert, doch bald war mir das zu wenig. Ich wollte mehr darüber wissen, und so ergaben sich Informationen, die in mir Zweifel weckten. Wurde mein Vater vielleicht falsch behandelt? Konnte ich daran etwas ändern? Trotz allem, was in der Vergangenheit geschehen war, erschien es mir nicht richtig einfach nur die Hände in den Schoß zu legen. Doch es war zu spät. Kurz nach einem fruchtlosen Gespräch mit der Neurologin und ehe ich meiner Mutter vorschlagen konnte, die Schädel-CT-Bilder von einem anderen Neurologen begutachten zu lassen, wurde mein Vater aggressiv und mit der Polizei ins Spital eingeliefert.  Bei einem Besuch sah ich, dass sich sein Zustand generell weiter verschlimmert hatte. 
Er ignorierte mich, ich saß ihm gegenüber und spürte wie so etwas wie Hass in meinem Körper hochstieg. Ob er sich über meinen Besuch freue, fragte meine Mutter. "Nein" lautete die knappe Antwort. Sehr gut, somit konnte ich mir weitere derartige Aktionen ersparen!

Im Dezember 2008 kam er in ein Pflegeheim und meine Mutter plauderte eher zufällig aus, was  5 Jahre zuvor geschehen war. Daran, dass mein Vater kein Interesse an mir hatte, hatte ich mich gewöhnt, und der Gedanke, dass er ein Gespräch mit mir fürchte, hatte einen gewissen Reiz, doch diese Nachricht erschütterte mich so sehr, dass ich es selbst nicht verstand. Es war doch ganz logisch, was hatte ich denn erwartet? Bruder und Vater können nicht mehr zur Rede gestellt werden, die Mutter behauptet sich an diese Zeit nicht mehr so genau erinnern zu können, ja, es sei nicht in Ordnung gewesen, mich nicht zu verständigen, aber sie wisse nicht mehr, warum sie es nicht getan hätte. Ich weiß es schon: man macht es sich halt so leicht wie möglich, und wenn nicht in Ordnung ist, was Mann und Sohn tun, dann schaltet man sein Denken einfach ab. 

Damals hieß es noch, mein Vater wäre körperlich derart gesund, dass er noch 10 und mehr Jahre leben könne. Zum Glück war dies ebenso falsch wie die Diagnose. Er magerte ab (trotzdem er mehr aß als die anderen Heimbewohner), wurde immer schwächer und apathischer und wachte eines Morgens Ende August 2010 nicht mehr auf.  

Meine Mutter schenkte mir zwei Sparbücher, "damit ich nicht leer ausgehe", und ich werde auch mal eine beträchtliche Geldsumme von ihr erben (falls sie nicht vorher verloren geht), doch niemals kam ein Wort des Bedauerns über ihre Lippen. Sie möchte, dass ich sie besuche, damit sie mich mit ihren Erzählungen, bei welchem Arzt sie war, mit wem sie Karten gespielt hat oder ähnlichem langweilen kann. Anfangs sprach sie noch darüber, wie sehr ihr Mann sie unterdrückt hat oder welch schreckliches Kind meine Schwester war, doch meine Hinweise, dass auch ich und erst recht meine Schwester sehr unter diesem Mann gelitten haben, waren ihr offenbar unangenehm. Sagte ich etwas über damalige Situationen oder die Eigenschaften meines Vaters, war sie verwundert: Wie komme ich denn bloß darauf, er war doch gar nicht so bzw. erinnert sie sich nicht an derartiges. Meine Lebenserfahrungen versickern bei ihr ohne Effekt - zuerst wollte sie über meine spezielle Ärztin oder Jin Shin Jyutsu  einiges wissen, die Fragen wiederholten sich ebenso wie die Absichtserklärungen, schließlich hörte beides auf.
Ihrem Kontaktwunsch komme ich sporadisch und nur äußerlich nach, ich bin irritiert, wenn sie immer wieder das selbe erzählt, wie ein kleines Kind plappert oder ich den Eindruck habe, dass sie wie ein solches am Telefon mit mir "flirtet", damit ich sie wieder besuche. Und erst recht über ihr Verhalten, z.B. als wir uns wo verabredeten und sie nicht kam - weil sie, wie sie nachher erklärte, geglaubt habe, sie dürfe die U-Bahn-Station nicht verlassen. Was sie aber trotzdem tat, nur bei einem Ausgang, der vom Treffpunkt aus nicht zu sehen ist .. ..

Stand September 2010  

 

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