Das Thema Trinken 

Woher kam die Ansicht meines Vaters, trinken wäre weitgehend nutzlos? Er war so stolz auf seinen Verstand, auf seine Logik, rieb uns dauernd unter die Nase, dass er so viel gescheiter wäre als andere. Aber mit der Behauptung, dass die Flüssigkeit ja nur wieder ausgeschieden wird, war es auch schon wieder zu Ende mit der Erklärung. Niemand in der Familie kam jemals auf die Idee, das weiter zu hinterfragen.
Gelegentlich schimpfte er auf Menschen, die Limonade trinkend zusammensaßen. Ich habe dies als Untermauerung seiner Meinung akzeptiert, und wenn ich mich recht erinnere, hat er es auch so präsentiert. Was für ein hanebücherner Unsinn mit dem Trinken von zuckerhaltigen Limonaden und dem logischerweise darauf folgenden Ausscheiden des Zuckers mitsamt Flüssigkeit ein weitgehendes Trinkverbot zu begründen!
Beim Wandern hatten wir was zum Trinken mit, weil die ausgeschwitzte Flüssigkeit ersetzt werden musste, so weit war Trinken o.k. 
Zum Frühstück gab es ein Häferl Kakaomilch, was ganz und gar kein Durstlöscher ist, und im übrigen auch nicht Kalkmangel verhinderte. Ich vermute, dass ich Milch schon als Kind nicht vertrug, denn ich litt frühzeitig unter schlimmen Blähungen, denen aber keine weitere Beachtung geschenkt wurde. Hatten ja schließlich die anderen Familienmitglieder auch und war somit normal.
In die Schule bekam ich eine Jause mit, aber nichts zu trinken, ein paar Schluck Wasser vom Wasserhahn auf der Toilette, aus der hohlen Hand getrunken, mussten reichen.
Nach dem Mittagessen durfte ich ein Glas Wasser hinunterstürzen, trinken zum Essen war verboten. Das wäre schlecht, war die ganze Erklärung dazu. Woher mein Vater das hatte, was daran schlecht war, keine Ahnung. Wenn man davon ausgeht, dass Wasser die Verdauungssäfte verdünnt, darf man auch nach dem Essen nicht trinken, solange die Nahrung noch im Magen liegt.
Davon war aber keine Rede, ich vermute, dass mein Vater gar nicht wusste, warum er es verbot, sodass ich das Essen mit trockenem Mund hinunterwürgen musste. Ich dachte damals, dass ich als angeborenen Fehler keine oder nicht funktionierende Speicheldrüsen hätte und empfand das Verbot als Schikane. Heute weiß ich, dass ich "nur" so ausgetrocknet gewesen war, dass ich kaum Speichel bilden konnte.
Den Glauben daran, dass Trinken unnötig sei, gab mein Vater erst auf, als meine Mutter eines Tages vom Arzt heimkam und berichtete, er hätte ihr aufgetragen viel zu trinken, denn ihre Nieren seien durch Flüssigkeitsmangel schwer geschädigt, sie sei gerade noch einem Nierenversagen entkommen. Das war aber viel später.

Die Meinung über die weitgehende Unnötigkeit des Trinkens  war keineswegs die einzige Halbwahrheit, die mein Leben bestimmte. Sei es das Verbot, nach dem Waschen des Geschirrs die vom Geschirrwaschmittel ausgelaugten Hände einzucremen, weil sonst die Haut die Fähigkeit verlieren würde selbst das nötige Hautfett zu produzieren, die Ansicht, dass Zähneputzen in der Früh unsinnig sei, weil man die Zähne anschließend durch Essen ja wieder verschmutzt, oder die Erklärung, dass man nach Abklingen eines Fiebers möglichst bald wieder aufstehen müsse, um seinen Kreislauf zu trainieren, weil man sonst nicht wieder auf die Beine kommen würde - der hochgelobte Verstand hatte im Grunde nur die Aufgabe diverse Informationen zu filtern und jene als Unsinn abzustempeln und ev. mit fadenscheinigen Begründungen zu belegen, die nicht zur vorhandenen Meinung passten. Gefühle waren als Informationsquelle dabei nicht zugelassen, womit ausgeschlossen war, dass diese die angeblichen Weisheiten entlarven! An Wassermangel hatte ich mich so frühzeitig gewöhnt, dass ich ihn meist gar nicht als solchen wahrnahm, was wunderbar die Meinung festigen konnte, dass Trinken nicht nötig sei.
Ich habe heute noch große Probleme mit dem Durstgefühl und dem Wasserhaushalt meines Körpers.

 

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